Sturmflut

Sturmfluten sind faszinierende, aber zugleich bedrohliche Naturereignisse, die an Deutschlands Küsten immer wieder für Aufsehen sorgen. Besonders die Nord- und Ostsee sind Schauplätze dieser Phänomene, die durch eine Kombination aus meteorologischen und geophysikalischen Faktoren entstehen. Dieser Artikel erklärt, wie Sturmfluten in Deutschland entstehen, und nennt Beispiele schwerer Sturmfluten aus der Vergangenheit, die nachhaltige Spuren hinterlassen haben.

Eine Sturmflut entsteht, wenn starke Winde in Verbindung mit bestimmten Wetterlagen das Wasser der Meere an die Küsten drücken und dort auftürmen. Die Mechanismen lassen sich in mehrere Schritte gliedern:

Starke Winde durch Tiefdruckgebiete: Sturmfluten werden meist von kräftigen Tiefdrucksystemen ausgelöst, die über dem Nordatlantik entstehen. Diese Tiefs bringen Stürme oder Orkanböen mit sich, deren Windrichtung entscheidend ist. An der Nordsee sind nordwestliche Winde besonders kritisch, an der Ostsee nordöstliche.

Windstau-Effekt: Wenn der Wind über die Wasseroberfläche bläst, schiebt er das Wasser in Richtung Küste. Dieser Effekt wird als „Windstau“ bezeichnet. Je länger und stärker der Wind weht, desto mehr Wasser wird aufgetürmt. An der Nordsee kann dies durch die flache Küstenlinie und den Trichter der Deutschen Bucht verstärkt werden.

Niedriger Luftdruck: Tiefdruckgebiete senken den atmosphärischen Druck über dem Meer. Nach dem Prinzip der umgekehrten Barometerwirkung steigt der Wasserstand um etwa einen Zentimeter pro Hektopascal Druckabfall. Bei einem starken Tief mit 20–30 hPa unter Normaldruck kann dies allein schon 20–30 cm Meereshöhe ausmachen.

Astronomische Gezeiten: Wenn der Sturm mit einer Springflut zusammenfällt – einem Zeitpunkt mit besonders hohen Gezeiten durch die Anziehung von Mond und Sonne – wird die Sturmflut noch gefährlicher. Die Kombination aus Windstau und natürlicher Tide kann den Wasserstand um mehrere Meter anheben.

Eine Sturmflut gilt in Deutschland als „schwer“, wenn der Wasserstand mindestens 1,5 Meter über dem mittleren Tidehochwasser (MThW) liegt, und als „kompliziert“, wenn er 2,5 Meter überschreitet.
  • Die Zweite Marcellusflut (16. Januar 1362)
    Diese Sturmflut, auch „Zweite Grote Mandränke“ genannt, traf die Nordseeküste und gilt als eine der schlimmsten in der Geschichte. Ein mächtiger Sturm aus Nordwesten trieb das Wasser der Nordsee weit ins Binnenland von Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Ganze Landstriche, darunter die Region um Rungholt in Nordfriesland, wurden überflutet und verschwanden für immer. Schätzungen zufolge starben bis zu 100.000 Menschen in Nordwesteuropa, und die Küstenlinie wurde nachhaltig verändert. Diese Flut war so prägend, dass sie bis heute in der regionalen Erinnerung verankert ist.
  • Die Sturmflut von 1962 (16.–17. Februar 1962)
    Die „Hamburger Sturmflut“ ist die bekannteste Sturmflut der Neuzeit an der Nordsee. Ein starkes Tiefdruckgebiet mit Orkanböen aus Nordwesten trieb das Wasser der Elbe bis zu 5,7 Meter über dem mittleren Tidehochwasser in Hamburg. Deiche brachen, und weite Teile der Stadt, insbesondere Wilhelmsburg, standen unter Wasser. Über 300 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 6.000 wurden obdachlos, und die Schäden beliefen sich auf Hunderte Millionen D-Mark. Die Katastrophe führte zu einem Umdenken im Deichbau und Hochwasserschutz, darunter die Erhöhung der Elbdeiche.

    • Sturmtief „Capella“ (3. Januar 1976)
      Diese Sturmflut traf die Nordseeküste mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 160 km/h und einem Wasserstand von bis zu 6,45 Meter über dem mittleren Tidehochwasser in Husum. Zahlreiche Deiche wurden beschädigt, und in Niedersachsen und Schleswig-Holstein kam es zu weitreichenden Überschwemmungen. Glücklicherweise waren die Schutzmaßnahmen seit 1962 verbessert worden, sodass die Opferzahlen gering blieben (ein Todesfall). Dennoch zeigte „Capella“, dass selbst moderne Deiche nicht immer ausreichen.
    • Sturmtief „Xaver“ (5.–6. Dezember 2013)
      „Xaver“ brachte eine schwere Sturmflut an Nord- und Ostsee. An der Nordsee stieg der Wasserstand in Hamburg auf 6,09 Meter über dem mittleren Tidehochwasser, und an der Ostsee erreichte der Pegel in Lübeck 1,88 Meter über dem Normalwert. Die Kombination aus starkem Nordwestwind und Springflut führte zu Überschwemmungen in Küstenstädten wie St. Peter-Ording und Kiel. Schäden an Gebäuden, Straßen und Deichen beliefen sich auf Millionen Euro, doch dank moderner Warnsysteme und Schutzmaßnahmen gab es keine Todesopfer. Der Fischmarkt in Hamburg stand dennoch knöcheltief unter Wasser – ein eindrucksvolles Bild der Flut.

      Sturmtief „Zoltan“ (21.–22. Dezember 2023)
      An der Ostsee verursachte „Zoltan“ eine der schwersten Sturmfluten der letzten Jahre. In Stralsund stieg der Pegel auf über 1,5 Meter über dem Normalwert, und in Flensburg wurden 2 Meter überschritten. Sturm winds aus Nordosten trieben das Wasser gegen die Küste, überschwemmten Hafenbereiche und Promenaden. In Mecklenburg-Vorpommern wurden Schäden in Millionenhöhe gemeldet, und der Fährverkehr war zeitweise lahmgelegt. Die Flut zeigte, dass auch die Ostsee, trotz geringerer Gezeiten, bei entsprechenden Wetterlagen gefährlich werden kann.
      Die Entstehung einer Sturmflut in Deutschland ist ein komplexes Zusammenspiel von Wind, Druck und Geografie, das seit Jahrhunderten die Küsten prägt. Historische Ereignisse wie die Marcellusflut und moderne Katastrophen wie die Flut von 1962 oder „Zoltan“ zeigen die zerstörerische Kraft dieser Naturgewalten. Während Schutzmaßnahmen die Folgen abmildern, mahnen sie zugleich, dass Mensch und Natur in einem ständigen Dialog stehen – einer, der Respekt und Voraussicht erfordert, um die Küsten Deutschlands auch in Zukunft zu bewahren.
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